So viele Stimmbürger strömten in diesem Jahrhundert noch nie an die Urnen: Von dieser Dynamik profitierten vor allem die Befürworter des Covid-Zertifikates. In einem Landesteil konnten die Massnahmenkritiker überraschenderweise zulegen.
Als sei dieses Abstimmungswochenende nicht schon dramatisch genug, tauchte zwei Tage zuvor die neue Omikron-Variante des Virus auf, die dem Bundesrat grösste Sorgen bereitet: Gesundheitsminister Alain Berset erklärte am Sonntagabend vor den Medien, falls sich tatsächlich bestätigen sollte, dass das mutierte Virus ansteckender sei und den Impfschutz umgehen könne, seien dies äusserst schlechte Nachrichten. Am vergangenen Donnerstag um 17 Uhr, nur Stunden bevor die Nachricht über das mutierte Virus um die Welt ging, wurde Berset über die neue Entwicklung informiert.
Gegenwärtig sei die Lage noch nicht dramatisch, weil noch sehr wenig bekannt sei, so Berset. Sollten sich die schlimmsten Befürchtungen jedoch bestätigen, bedeute dies nichts anderes, als dass man zwei Pandemien gleichzeitig bekämpfen müsse. Umso wichtiger sei es, dass sich das Volk nun deutlich hinter das Covid-19-Gesetz gestellt habe, erklärte Berset an diesem bemerkenswerten Abstimmungssonntag.
Der wachsende Rückhalt für die Corona-Politik des Bundes macht sich in Ortschaften wie dem thurgauischen Bischofszell bemerkbar. Die 6000-Einwohner-Gemeinde an der Grenze zum Kanton St. Gallen stimmte dem Covid-19-Gesetz recht deutlich zu, mit 1253 zu 1074 Stimmen. Im vergangenen Juni, als zum ersten Mal in einer Referendumsabstimmung über dieses Gesetz entschieden wurde, hatten die Gegnerinnen und Gegner hier noch knapp die Nase vorn.
In vielen Ortschaften im Kanton war am Sonntag eine ähnliche Entwicklung zu beobachten: Gegenüber dem letzten Urnengang verloren die Massnahmenkritiker Dorf um Dorf an die Befürworter – so dass dieses Mal schliesslich der gesamte Kanton Thurgau das Covid-19-Gesetz mit 54,7 Prozent guthiess. Fünf weitere Kantone kippten nach ähnlichem Muster im Vergleich zur Juni-Abstimmung ins Befürworter-Lager – Uri, Ob- und Nidwalden, Glarus sowie Appenzell Ausserrhoden. Das Covid-Zertifikat hat sich damit praktisch flächendeckend als tragfähig erwiesen.
Es wäre übertrieben, von einem Erdrutschsieg der Befürworter zu sprechen, und dennoch ist das Resultat deutlich. Einzig Schwyz und Appenzell Innerrhoden lehnen die Vorlage ab, der Rest der Schweiz stimmte zu. Und auch in den beiden ablehnenden Kantonen wurden weniger Nein-Stimmen gezählt. Schweizweit betrug die Zustimmung schliesslich 62 Prozent, gegenüber 60,2 Prozent im Juni. Am deutlichsten fiel sie mit über 70 Prozent im Kanton Basel-Stadt aus. Die Ergebnisse zeigen, dass es in dieser Frage nach wie vor einen Stadt-Land-Graben gibt.
Noch vor zehn Tagen hatte es so ausgesehen, als ob die Gegnerinnen und Gegner etwas aufholen könnten. Selbst eine Überraschung war angesichts der massiven Mobilisierung nicht ganz ausgeschlossen. 65 Prozent betrug schliesslich die Stimmbeteiligung – das ist der vierthöchste Wert seit der Einführung des Frauenstimmrechts im Jahre 1971. In diesem Jahrhundert kam es noch nie zu einem stärkeren Run auf die Urnen.
Zwar hatten die Gegnerinnen und Gegner in den letzten Tagen mit grossem Engagement und einer eindrücklichen Materialschlacht versucht, alle an die Urne zu bringen, die auch nur den geringsten Zweifel an der Richtigkeit des Zertifikats hatten. Doch letztlich bewirkte diese Offensive eine Gegenmobilisierung. Auch in den Städten, wo die Zustimmung erwartungsgemäss grösser ausfiel als auf dem Land, strömten die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger an die Urne. Mancherorts gab es kurz vor Schliessung der Lokale Schlangen.
Die steigenden Fallzahlen in den letzten Wochen und die zunehmend schwierige Lage in den Nachbarländern dürften viele Leute davon überzeugt haben, dass Massnahmen weiterhin nötig sind. Gut 68 Prozent der Bevölkerung sind in der Schweiz inzwischen doppelt geimpft – für sie bietet das Covid-Zertifikat in der derzeitigen Lage die grössere Sicherheit, auch längerfristig von weitergehenden Massnahmen verschont zu bleiben.
Auch die Ungewissheit nach dem Auftauchen der Omikron-Variante hat wohl im letzten Moment noch das Bewusstsein dafür geschärft, dass die Krise mit einem radikalen Schnitt an der Urne nicht beendet werden kann. Und schliesslich konnten die Gegner auf dem Land im Sommer von der Zugkraft verschiedener Agrarvorlagen profitieren – während die Pflegeinitiative eher die Linken in den Städten an die Urnen brachte.
Doch nicht überall in der Schweiz verzeichneten Gegnerinnen und Gegner des Covid-Gesetzes Rückschläge. In der Westschweiz und im Tessin stiegen die Nein-Stimmen-Anteile gegenüber Juni sogar an, am deutlichsten in den Kantonen Waadt und Genf. Die massnahmenkritische Szene, die ihre Wurzeln in der Deutschschweiz hat, scheint sich inzwischen auch in den anderen Sprachregionen etablieren zu können.
Für den Bundesrat bedeutet das Abstimmungsresultat dringend nötigen Rückhalt in einer schwierigen Phase der Pandemie. Die steigenden Fallzahlen und die zunehmende Auslastung der Spitäler haben in den letzten Tagen dazu geführt, dass der Druck, zusätzliche Einschränkungen vorzunehmen, gestiegen ist.
Gesundheitsminister Berset zeigte sich erfreut darüber, dass das Volk dem Gesetz so klar zugestimmt hat. Die epidemiologische Lage sei nicht gut, und es sei wichtig, dass Bundesrat, Parlament und Kantone die Pandemie und deren Folgen weiterhin mit allen Möglichkeiten bekämpfen könnten. Er erklärte, es gehöre zur Schweiz, dass man sich nach einer Abstimmung wieder zusammenraufe. Die Streitkultur der Schweiz sein ein hohes Gut – aber der Streit dürfe nicht endlos andauern. Wut, Drohungen und Gewalt gehörten nicht zur Schweiz.
Wie sich das klare Resultat auf die Stimmung in der Bevölkerung und insbesondere auf die Aktivitäten der Gegnerinnen und Gegner auswirkt, lässt sich vorerst noch nicht klar vorhersehen. Vor dem Bundeshaus, das am Sonntagmorgen aus Sicherheitsgründen abgeriegelt worden war, versammelten sich spontan zwar einige wenige Demonstrantinnen und Demonstranten. Doch bis am frühen Abend blieb es ruhig.
Josef Ender, der Sprecher des gegnerischen Komitees, erklärte, es bleibe nichts anderes übrig, als das Resultat zu akzeptieren. Er bezeichnete das Gesetz aber weiterhin als verfassungswidrig und kündigte an, die Gegner würden weiter für die verfassungsmässigen Rechte, Freiheit und Selbstbestimmung kämpfen.
Eigenwillig bis hanebüchen mutete dagegen ein Communiqué der Bewegung «Massvoll» an, die über den angeblich irreführenden Stimmzettel klagte und Behinderungen sowie Diffamierungen während des Abstimmungskampfes anprangerte. «Massvoll» betrachtet das Ergebnis des Urnengangs deshalb «als nicht legitim und für uns nicht bindend». Solche Aussagen bedeuten einen Angriff auf den Volkswillen und die direkte Demokratie.
Eine bittere Niederlage stellt das Abstimmungsresultat aber auch für die SVP dar. Während die Partei im Sommer noch Stimmfreigabe beschloss, bekämpfte sie das Covid-Zertifikat jetzt aktiv – und dennoch wurden die Massnahmenkritiker nun sogar geschwächt. Das Engagement der grössten Partei brachte offenbar nichts. Dies zeigt das Dilemma der Volkspartei beispielhaft: Die Corona-Skeptiker-Bewegungen drohen der SVP am rechten Rand das Wasser abzugraben. Doch umgekehrt scheint sich auch der Widerstand gegen die Corona-Massnahmen für sie nicht richtig auszubezahlen.
Ebenfalls an diesem Sonntag wurde die Volksinitiative «für eine starke Pflege» angenommen – und zwar mit einem Ja-Stimmen-Anteil von 61 Prozent. Einzig in Appenzell Innerrhoden wurde die Initiative mit knapp 53 Prozent Nein abgelehnt. Das Volksbegehren verlangt, dass Bund und Kantone die Pflege fördern. Auch die Pflegeinitiative dürfte davon profitiert haben, dass die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger während der Krisenjahre gesehen haben, dass ein Ausbau der Pflege notwendig ist. Nun muss die Initiative in einem Gesetz umgesetzt werden. Keine Chance hatte dagegen die Justizinitiative, die ein neues Wahlverfahren für Richterinnen und Richter vorsah. Die Initiative wurde mit einem Nein-Stimmen-Anteil von 68,1 Prozent und in allen Kantonen abgelehnt.