«Die Türkei vertreibt uns nicht noch einmal»

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Christen in Nordsyrien«Die Türkei vertreibt uns nicht noch einmal»

Vor dem syrischen Bürgerkrieg lebten 20'000 Christen im Khabour-Tal. Heute sind es noch um die 1000. Sie sehen dem Vorrücken der Türkei mit Angst entgegen.

Ann Guenter
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Ann Guenter

«Die Türkei ist unser natürlicher Feind», sagt Wael*. Der 30-jährige Christ aus Tel Tamr spielt auf «Sayfo» an. So nennen die Assyrer den Genozid an Armeniern und Assyrern im Ersten Weltkrieg. Später hatten Christen vom Völkerbund in Genf ein neues Siedlungsgebiet zugesprochen bekommen: das Khabour-Tal. Vor dem Bürgerkrieg lebten hier rund 20'000 Christen. Jetzt sind es noch um die 1000. Sie befürchten mittlerweile ihre restlose Vertreibung.

Das christliche Dorf Tel Taweel am Eingang des Tals steht seit Tagen unter Beschuss. Seine Bewohner sind geflohen, wie schon so viele aus den assyrischen und chaldäischen Dörfern in diesem Gebiet geflohen sind: Vor vier Jahren vor den IS-Schergen, jetzt vor der anrückenden türkischen Armee und ihren Milizen. «Wir haben alles zurückgelassen», hörte 20 Minuten bereits vor zwei Wochen von Fliehenden. «Uns steht allein Gott bei.»

Christliche Gebiete ausserhalb der «Sicherheitszone»

Die Türkei will entlang der syrisch-türkischen Grenze eine Sicherheitszone schaffen und die Kurdenmiliz YPG vertreiben, die sie als «Terroristen» und verlängerten Arm der PKK sieht. Dafür setzt Ankara auch auf Milizen der Syrischen Nationalen Armee (SNA), Gruppierungen von radikalen Islamisten. Diese testen die Grenzen der «Sicherheitszone» gegen Süden und dringen dabei immer tiefer in die Siedlungsgebiete der Assyrer und Armenier ein – selbst wenn diese ausserhalb der beanspruchten «Sicherheitszone» liegen.

Seit gut zwei Monaten werden so Menschen vertrieben, unter «Allahu Akbar»-Rufen und Drohungen, dass «Ungläubige» geköpft würden. Berichte, etwa von Amnesty International, dass es nicht bei Drohungen bleibe, häufen sich. Wie einst der IS schrecken die protürkischen Milizen auch vor Verwüstungen von Kirchen nicht zurück. Während sie in der armenisch-christlichen Kirche von Tel Abyad randalierten und in al-Darbasiyah die Syrisch-orthodoxe Kirche beschossen, teilte der türkische Präsident Erdogan mit, dass seine Regierung den syrischen Christen dabei helfen wolle, «ihre Heiligtümer wieder zum Leben zu erwecken und ihre Kirchen wiederaufzubauen». So sind Kirchen längst Bestandteil der Propagandaschlacht zwischen der Türkei und den Kurden der YPG geworden.

«Noch einmal lassen wir uns nicht vertreiben»

Dem türkischen Vordringen stellen sich syrische Regierungstruppen und Kämpfer der kurdisch dominierten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) entgegen, aber auch christliche Selbstverteidigungseinheiten wie die «Sutoro»-Miliz. Deren grosses Vorbild ist Johan Cosar, ein Schweizer Unteroffizier mit assyrischen Wurzeln, der im Kampf gegen den IS eine Führungsrolle bei dieser Miliz hatte.

Auch Wael aus Tel Tamr hat sich einer christlichen Miliz angeschlossen. «Das Dorf Tel Taweed ist derzeit die letzte gehaltene Position der Christen im Khabour-Tal», sagt er. «Sie verteidigen wir, für sie kämpfen wir. Bis zuletzt, wenn es sein muss. Noch einmal lassen wir uns von der Türkei nicht vertreiben.»

*Name der Redaktion bekannt

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